Christiane Krömer

Christiane Krömer

Illustration

Ich bin zur rechten Seite der Mauer, im Ostblock, herangewachsen, wo die Anwesenheit des Geheimdienstes so alltäglich war, wie das Wolfsrudel, das eine Herde von Elchen begleitet.
Ich wuchs heran in Sommerwiesen voll Grillengesang, die orange schimmerten in der Sonne des späten Nachmittages.
Thüringer Dörfer waren in sanfte Täler geschmiegt, bereits in deren Schatten getaucht. Die Häuser aus gebräunten Holzbalken und beigem Lehm, wie sehr ich sie liebe. Viele waren graublau gedeckt, mit Schiefern, die aus den Gesteinstiefen dieser Gegend stammten. Alles hat geatmet. In den Mauerecken hingen Spinnennetze, blühte Löwenzahn; lange Holzleitern lehnten an den Häuserwänden, bereit, an einen Apfel-oder Pflaumenbaum im Garten gelehnt zu werden. Verstohlene Katzen auf den Spuren von Maulwurf und Maus. Menschen, die in einem Dialekt sprachen, so wie er aus der Erde wuchs, mit gerundetem „R“. Weiche Berge, wie zum Schutz um alles gelegt, in der Ferne sanft-grau.
Im Wald, auf warm-duftenden Betten von Fichtennadeln, flickerten Sonnenlichter, tanzten die Mücken. Dort konnte man Quartzkristalle finden in geheimen Pingen, Kaulquappen fangen im moorigen Teich.

Ich wuchs heran inmitten von Menschen mit einem Geist so fest, dass selbst schon der, der es unterließ, Gardinen an seine Fenster zu hängen, Gefahr lief, in ihrer Mitte ungegrüßt zu bleiben. Geheimdienstlich-rechtwinklige Giftgase siechten durch den hellerlichten Tag und brachten mit sich Regeln und pragmatische Vernunft, sodass niemand Erde, Regen, Feuer, Wind und Holz zu unbewacht erfahren solle. Verstohlen wie die Katzen dann, wer mit Hintergedanken fremde Sprachen lernt, wer heimlich gar dunkle Gesichter malt, umrahmt von schwarzem Haar.

Ich wuchs heran inmitten von Menschen, die so verwurzelt waren in den alten Art, dass es mir, wenn sie mir Grimms Märchen erzählten als Kind, so erschien, als wären diese Märchen wahr, als begännen sie gleich hinterm Haus im Wald.
Unmöglich, dass einer, der heranwächst so wie ich, nicht zum Bersten erfüllt von Sehnsucht ist, nicht Schönheit erkennt; unmöglich, dass so einer nicht zur Künstlerseele wird.

In alten Zeiten war Thüringen arm, und die Menschen stellten Spielzeug her vom Holz, das der Wald ihnen schenkte. Es war eine der wenigen, bescheidenen Industrien, die es dort gab.
So studierte auch ich Spielzeug-Design, als ich Kunststudentin wurde.
Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle. Die „Burg“.
Jedoch bevor ich mich versehen hatte, strömte ein reißender Fluss durch die Tore der Burg, und am anderen Ende wieder hinaus. Das pure Leben, die Unvernunft. Hellbraune Fluten von Sehnsucht mit Gischtkronen. Ich bin emigriert.

In der Spiegelseite des Landes jedoch hab‘ ich mich gekringelt vor langer Weile.
Ich hab‘ den Geruch von Benzin vermisst von den sowjetischen Panzerkolonnen in ostdeutschen Straßen zur Nacht.
Die Katzen trugen Halsbänder und fraßen aus Dosen. Sogar der Mond war sauber.
Ich begann zu trampen. Wenn es vorher Sochi und Yerevan, Budapest und Sofia war, so war es jetzt Paris und London und Holland und Griechenland. Ich hatte nun einen Pass, und die Welt war mein.
​Ich studierte Visuelle Kommunikation an der Universität Kassel, und jeden Tag trampte ich zum Unterricht.

​Und dann kam ich nach New York. Unmöglich, dass so jemand wie ich dort nicht letztendlich landet.
Als ich ankam, wußte ich sofort: Jetzt bin ich zuhause. Euphorie erfüllte mich, als ich an den Wolkenkratzern emporblickte. August war es, und die Luft so feucht, so grau und heiß, dass das Papier sich wellte: so also sieht Freiheit aus. 
Und ich hatte Lotusblüten im Gepäck.
Parsons School of Design, die beste Kunsthochschule in Amerikamein Heimattempel.
Mein Lehrer sagte uns in der ersten Unterrichtsstunde, dass wir ein „staple gun“ brauchten. Ich fragte sogleich im Studentenbüro nach, wo ich ein „gun“ kaufen könnte. Wie sich herausstellte, heißt „staple gun“ Tacker, nicht Pistole.
Vom Fenster meines Wohnheimzimmers aus, das kaum größer war, als die Matratze, auf der ich saß und malte, sah ich die amerikanische Fahne auf dem Dach der Post flackern.
BFA in Illustration. Mein Kindheitstraum.

Seitdem bin ich Illustrator. Ein Illustrator von Gesichtern, umrahmt von schwarzem Haar, von Ornamenten, von Kulturen dieser Welt.
Die Mauer zerbrach hinter mir auf einem Fernsehbildschirm. 
Und meine Träume wuchsen noch.

Als ich nach Sado-ga-Shima kam, einer Insel in Japan, fand ich, zwischen Leinen von trocknenden Algen und Kelp, Häuser wie die, die ich von jeher kannte: von gebräunten Holzbalken und beigem Lehm, verwirkt mit Korbgeflecht, vermischt mit Stroh.  Frösche quakten in den unmöglich frisch-grünen, verspiegelten Reisfeldern des Frühlings. Shinto-Schreine mit schwerem Dachgesims inmitten von Kirschblüten. Die Luft noch kühl. Schlammige Kinder-Gummistiefel und Schäufelchen auf den Stufen eines Hauseingangs.
Und wieder wußte ich: Ich bin zuhause.

Wird die Zeit je reichen, um all die Geschichten zu erzählen, all die Bücher zu illustrieren, die ich in mir habe?
Mit dem Jahr 2015 hat ein neues Kapitel in meinem Leben begonnen, und wieder hat der Fluss seine Richtung gedreht.
Ich jedoch bin noch immer voll von Sehnsucht…

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